Patellaluxation beim Hund
Einleitung
Unter einer Patellaluxation (Luxatio patellae) ist eine Verrenkung der Kniescheibe zu verstehen, bei der es zu einer Verlagerung der Kniescheibe aus der Rollfurche (Sulcus trochlearis) am unteren (distalen) Ende des Oberschenkels (Femur) kommt. Die Verrenkung der Kniescheibe nach innen wird als mediale, die nach außen als laterale Patellaluxation bezeichnet. Erstere tritt im Vergleich zur lateralen Form deutlich häufiger auf. Ferner kann unterschieden werden zwischen einer angeborenen (kongenitalen) und einer durch einen Unfall verursachten (traumatischen) Kniescheibenverrenkung. Während die angeborene Patellaluxation vorwiegend bei jungen Hunden vorkommt und entweder nur an einer oder an beiden Hintergliedmaßen festgestellt werden kann, geht die traumatische Form meist mit einer weiteren Beschädigung des Kniegelenks einher.
Anatomie
Zum besseren Verständnis der Entstehung einer Patellaluxation und deren Therapie ist eine Kenntnis der anatomischen Gegebenheiten im Bereich des Kniegelenks notwenig (Abb.1). Das Kniegelenk (Articulatio genus) setzt sich aus zwei, miteinander in Verbindung stehenden Anteilen, dem Kniekehlgelenk (Articulatio femorotibialis) und dem Kniescheibengelenk (Artculatio femoropatellaris) zusammen.
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Im Kniekehlgelenk gelenken der äußere und innere Gelenkknorren (Condylus lateralis und medialis) des Oberschenkels mit dem Schienbein. Dieses Gelenk wird als Spiralgelenk bezeichnet, da in der Seitenansicht der untere Abschnitt des Oberschenkels spiralig gewunden erscheint. Da die Gelenkflächen von Ober- und Unterschenkel eigentlich nicht zueinander passen und das Kniekehlgelenk deshalb auch als inkongruentes Gelenk bezeichnet wird, existieren mit dem mandarinenscheibenförmigen inneren und äußeren Meniskus, dem inneren und äußeren Seitenband sowie dem vorderen und hinteren Kreuzband Strukturen, die ein stabiles Gelenk und einen ungehinderten Bewegungsablauf gewährleisten.
Das Kniescheibengelenk wird gebildet durch einerseits die Kniescheibenrolle (Trochlea ossis femoris) andererseits durch die Kniescheibe (Patella). Bei der Patella handelt es sich um eine knöcherne Einlagerung (Sesambein) in die Endsehne des vierköpfigen Oberschenkelmuskels (Quadrizepsmuskel, Musculus quadriceps femoris), die auch als Kniescheibenband (Ligamentum patellae) bezeichnet wird und am Schienbein an der Schienbeinbeule (Tuberositas tibiae) befestigt ist. Der vierköpfige Oberschenkelmuskel, die Kniescheibe, die Rollfurche, das gerade Kniescheibenband und die Tuberositas tibiae sind Bestandteile des so genannten Extensor Mechanismus, der für die Streckung und Stabilisierung des Kniegelenks wichtig ist. Sie müssen im Gliedmaßenverlauf in einer Linie angeordnet sein, um eine ungestörte Gelenkfunktion sicher zu stellen. Treten eine oder mehrere dieser anatomischen Strukturen aus der Gliedmaßenachse nach innen oder außen heraus, kann es zu einer Kniescheibenverrenkung kommen.
Das Kniescheibengelenk ist ein Schlittengelenk, da die Kniescheibe in der Kniescheibenrolle wie ein Schlitten in seiner Bahn hin und her gleitet. Die Patella ist hierzu so geformt, dass sie mit der Kniescheibenrolle eine ausgedehnte Berührungsfläche hat.
I. Verrenkung der Kniescheibe nach innen (mediale Patellaluxation)
Die Verrenkung der Kniescheibe nach innen (mediale Patellaluxation) kommt besonders bei kleinen Hunderassen wie z.B. Klein- und Zwergpudel, Chihuahua, Yorkshire-Terrier, Papillon, Foxterrier oder Pekinse vor, kann jedoch auch bei großen Hunden wie Shar Pei, Appenzeller und Entlebucher Sennenhund und Chow-Chow auftreten.
Ursachen für eine Verrenkung der Kniescheibe nach innen
Die Verlagerung der Kniescheibe nach innen neben die Kniescheibenrolle ist Ausdruck einer komplexen Fehlentwicklung von Ober- und Unterschenkel, die in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein kann.
Der Verlagerung des Quadrizepsmuskels (M.quadriceps femoris) auf die Innenseite des Oberschenkels kommt bei der Patellaluxation nach innen eine zentrale Bedeutung zu: Sie bewirkt bei einem noch wachsenden Hund eine Erhöhung des Drucks auf den innen gelegenen Anteil der Wachstumsfuge des unteren, kniegelenknahen Oberschenkels. Daher kommt es in diesem Bereich zu einer Reduktion des Längenwachstums des Knochens wohingegen der Druck auf den äußeren Bereich der Wachstumsfuge zurückgeht, so dass das Wachstum dort schneller fortschreitet. Somit entsteht eine nach außen gerichtete Verkrümmung des unteren Drittels des Oberschenkels. Je ausgeprägter die Verlagerung des Quadrizepsmuskels vorhanden ist und je jünger der Hund zu diesem Zeitpunkt ist, desto gravierender entwickelt sich die Deformation am unteren Oberschenkel.
Ausgehend von dieser Achsenabweihung entstehen ebenfalls sekundär am Schienbein und an der Kniescheibenrolle teils ausgeprägte Veränderungen:
An Ersterem kommt es infolge der Beeinträchtigung seiner oberen und unteren Wachstumsfugen einerseits zu einer Verlagerung des Ansatzes des M. qudriceps femoris nach innen, zum anderen zu einer Verkrümmung des oberen Schienbeins nach innen und seines unteren Abschnitts nach außen.
Der Gelenkknorpel der Kniescheibenrolle reagiert ähnlich wie die Wachstumsfuge des Knochens, so dass es bei vermindertem Druck zu einer Beschleunigung und bei vermehrtem Druck zu einer Verminderung des Knorpelwachstums kommt. Daher entsteht bei einem physiologischen Druck der Kniescheibe auf den Gelenkknorpel am unteren Ende des Oberschenkels eine normal entwickelte Rollfurche (Sulcus trochlearis), in der die Kniescheibe bei der Bewegung des Kniegelenks gleiten kann, ohne nach innen oder außen über die Gelenkknorren heraus zu rutschen. Bei fehlendem Druck durch eine nach innen ausgerenkte Kniescheibe entwickelt sich hingegen nur eine abgeflachte Rollfurche, deren Tiefe abhängig ist vom Grad der Verlagerung der Kniescheibe einerseits sowie vom Alter zum Zeitpunkt des Beginns der Verrenkung andererseits.
Untersuchung des Patienten
Die Untersuchung der Hunde auf eine Patellaluxation kann entweder im Rahmen einer Zuchttauglichkeitsüberprüfung oder zur Diagnosestellung mit angeschlossener Therapie bei bestehenden klinischen Beschwerden erfolgen.
Zuchttauglichkeitsuntersuchungen auf eine mediale oder laterale Patellaluxation erfolgen von zertifizierten Tierärzten nach einem vorgeschriebenen Protokoll.
Bei vorhandener Lahmheit sollte die Verrenkung der Kniescheibe schon so früh wie möglich diagnostiziert und therapiert werden, um den sich daraus für die Gliedmaßenachse ergebenden Fehlentwicklungen möglichst rechtzeitig vorzubeugen.
Als weitergehende Untersuchung bei einer vorhandenen Patellaluxation können Röntgenaufnahmen angefertigt werden, die in der Aufsicht das Becken, Oberschenkel, Knie (Abb.2) und Unterschenkel und in seitlicher Projektion das Kniegelenk zeigen.
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Symptome
Je nach Ausmaß der Entwicklungsstörung der Hintergliedmaße zeigt auch die daraus resultierende Patellaluxation eine unterschiedliche Ausprägung, die sich in einer Einteilung in vier Schweregrade widerspiegelt und zu unterschiedlichen klinischen Erscheinungen führt (Tab.1). Je nach Grad der Patellaluxation kann eine nur zeitweise vorhandene (intermittierende) Ganganomalie, bei der der Hund die betroffene Gliedmaße lediglich für ein bis zwei Schritte angewinkelt hochhält, um anschließend wieder lahmheitsfrei weiter zu laufen, bis hinzu einer dauerhaften Lahmheit vorhanden sein. Bei der schwersten Ausprägung der Kniescheibenverrenkung läuft der Hund immer mit gebeugtem Kniegelenk, da aufgrund der verlagerten Kniescheibe keine Streckung des betroffenen Kniegelenks mehr möglich ist.
Therapie
Die Behandlung der Patellaluxation erfolgt chirurgisch. Hierfür stehen eine Vielzahl von Operationstechniken zur Verfügung, die alle darauf ausgerichtet sind, die Kniescheibe in der Rollfurche (Sulcus trochlearis) zu halten. Welche der einzelnen Techniken angewendet wird hängt zum einen von dem Grad der Kniescheibenverrenkung und zum anderen von der Präferenz des Chirurgen ab. In der Regel ist eine Kombination verschiedener Operationsmaßnahmen notwendig, um das Operationsziel zu erreichen.
So besteht zum einen die Möglichkeit, eine Vertiefung der Rollfurche vorzunehmen, um den Verbleib der Patella innerhalb der Kniescheibenrolle zu gewährleisten. Hierfür sind verschiedene Vorgehensweisen in der Literatur beschrieben.
Darüber hinaus kann eine Versetzung (Transposition) der Schienbeinbeule (Tuberositas tibiae) als Ansatzfläche des geraden Kniescheibenbands vorgenommen werden. Dadurch wird die Zugrichtung des Quadrizepsmuskels am Unterschenkel korrigiert und so die gerade Wirkungslinie des Extensor-Mechanismus wieder hergestellt.
Infolge der bei einer nach innen verlagerten Kniescheibe oftmals erheblichen Dehnung des auf der Außenseite gelegnen Anteils der Gelenkkapsel und deren Verstärkung (Retinaculum patellae) können als weitere Maßnahme zur Korrektur der Patellaluxation überschüssige Anteile dieser Strukturen entfernt werden, damit ein straffer Verschluss des Kniegelenks erfolgen kann und so die Kniescheibe in der Rollfurche fixiert bleibt.
Ist eine Kniescheibenverrenkung aufgrund hochgradiger Achsenabweichungen in der Gliedmaßenlängsachse mit den oben beschriebenen Techniken nicht therapierbar, muss eine Begradigung des Oberschenkels und/oder des Unterschenkels (Korrekturosteotomie) durchgeführt werden, bei der ein Keil aus dem Knochen entfernt wird, um einen normalen Achsenverlauf der Gliedmaße wieder herzustellen.
Als sinnvoll wird eine chirurgische Intervention bei sich noch im Wachstum befindlichen jungen oder gerade ausgewachsenen Hunden angesehen, auch wenn sie (noch) keine klinischen Erscheinungen zeigen. Bei diesen Hunden kann durch eine Operation einer Beschädigung des Knorpels der Kniescheibenrolle und der Patella vorgebeugt werden, da dieser bei jedem Herausrutschen der Kniescheibe aus der Rollfurche geschädigt wird und sich so mit der Zeit abnutzt. Dies kann zu einer Verstärkung der Symptome führen. Eine chirurgische Korrektur der Lage der Kniescheibe ist bei jungen Hunden, deren Wachstumsfugen noch nicht geschlossen sind, auch vor dem Hintergrund der Verhinderung eines Schiefwachstums von Ober- und Unterschenkel anzuraten.
Darüber hinaus ist eine Operation der Kniescheibenverrenkung bei allen Hunden sinnvoll, die eine Lahmheitssymptomatik zeigen.
Eine Therapie der Patellaluxation bei älteren Hunden ohne sichtbare Beeinträchtigung wird dagegen im Allgemeinen als unnötig erachtet.
Prognose
Bei bis zur Hälfte der Patienten kann es zu einer erneuten Verlagerung der Kniescheibe kommen, die jedoch aufgrund ihrer nur leichten Ausprägung (Grad 1) meist ohne Lahmheit bleibt und somit eine gute Gliedmaßenfunktion besteht.
II. Verrenkung der Kniescheibe nach außen (laterale Patellaluxation)
Die Verlagerung der Kniescheibe nach außen tritt überwiegend bei Hunden mittlerer und größerer Rassen wie z.B. Cockerspaniel, Alaskan Malamute oder Flat Coated Retriever auf, kann aber auch bei Hunden der oben beschriebenen Toyrassen beobachtet werden.
Als Ursache für die nach außen gerichtete Kniescheibenverrenkung wird eine Veränderung der Gliedmaßenlängsachse durch eine Fehlentwicklung des oberen Abschnitts des Oberschenkels angenommen, die zu einer Verlagerung der Zugrichtung des Quadrizepsmuskels führt.
Die Einteilung der lateralen Patellaluxation sowie deren Therapie ist der der medialen Form bis auf die in diesem Fall nach innen gerichtete Zugrichtung der chirurgisch zu erstellenden Haltekonstruktionen für die Kniescheibe entsprechend
© 06/2011 |
Dr. M. Bausch Tierärztliche Klinik für Kleintiere am Kaiserberg |
Fotos |
Dr. med. vet. Markus Bausch |
Literatur |
Literatur beim Verfasser
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